Fachkräftesicherstellungsgesetz

Lebenshilfe Marburg - Standpunkte

Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel in der Eingliederungshilfe in Hessen: Die aktuell größte Gefahr für die Inklusion

Die Eingliederungshilfe spielt eine entscheidende Rolle bei der Assistenz von Menschen mit Behinderungen und der Verwirklichung inklusiver Gesellschaften. Doch aktuell steht sie vor einer der größten Herausforderungen: dem Fach- und Arbeitskräftemangel. Dieses Problem bedroht nicht nur die Effektivität der Eingliederungshilfe, sondern stellt auch das Menschenrecht auf Inklusion selbst und damit die Verwirklichung der Ziele der UN-BRK auf eine harte Probe.

Die Bedeutung der Eingliederungshilfe

Die Eingliederungshilfe ist unverzichtbar für Menschen mit Behinderungen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Sie unterstützt Menschen mit psychischen, körperlichen und kognitiven Behinderungen bei der Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen, fördert die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ermöglicht die Entwicklung individueller Potenziale. Doch all dies ist ohne ausreichend viele und gut ausgebildete Fach- und Arbeitskräfte in der Eingliederungshilfe kaum realisierbar.

Die aktuelle Lage des Fachkräftemangels in der Eingliederungshilfe

In Deutschland und Hessen sind die Auswirkungen des Fach- und Arbeitskräftekräftemangels in der Eingliederungshilfe deutlich spürbar. Plätze werden abgebaut, Bedarfe können nicht gedeckt werden. Die hohe Belastung des vorhandenen Personals führt zu Überlastung, reduzierter Qualität der Assistenz und langen Wartezeiten bzw. Leistungseinbußen für Leistungsberechtigte. Ein Teufelskreis, der nicht nur die Mitarbeiter*innen betrifft, sondern auch die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen.

Warum ist der Fachkräftemangel eine Gefahr für die Inklusion?

  1. Qualität der Assistenz: Ohne ausreichend qualifiziertes Personal leidet die Qualität der Assistenz. Individuelle Bedürfnisse können nicht angemessen berücksichtigt werden, und die Förderung der Selbstbestimmung gerät ins Stocken.

  2. Teilhabechancen: Die Eingliederungshilfe ist entscheidend für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ein Mangel an Arbeits- und Fachkräften bedeutet, dass viele Menschen mit Behinderungen ihre Chancen auf eine umfassende Teilhabe verlieren.

  3. Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe: Inklusion ist mehr als nur eine Maßnahme für Menschen mit Behinderungen. Sie ist eine gesellschaftliche Verpflichtung, die durch qualifiziertes Personal in der Eingliederungshilfe gestützt wird. Der Fachkräftemangel gefährdet diese Verpflichtung und führt zu einer Spaltung der Gesellschaft.

Mögliche Lösungsansätze

Um dieser Gefahr zu begegnen, sind konkrete Maßnahmen erforderlich:

  1. Ein kleines Gesetz mit großer Wirkung für die Teilhabe: Hessen braucht ein Fachkräftesicherstellungsgesetz in Form einer Konkretisierung des Sicherstellungsauftrages des Landes aus § 94 Abs. 3 SGB IX. Dieses kann sich in Form und Inhalt an der Tätigkeit des Landes in anderen Bereich des SGB, z. B. dem SGB VIII orientieren. Ziel ist es für die Menschen verlässliche Lebens- und Teilhabebedingungen zu schaffen.
  2. Mehr Respekt und Anerkennung: Insgesamt braucht die Arbeit für und mit Menschen mit Behinderung mehr öffentliche Anerkennung und Respekt! Zum Beispiel setzen sich die Mitarbeitenden in den besonderen Wohnformen mit Herz und Verstand 24/7 für die Teilhabe und Pflege von Menschen mit Behinderung ein. Sie sind gesellschaftlich genauso wichtig, wie Mitarbeitende in der Pflege, Gesundheit und Kita. Sie dürfen nicht vergessen werden, so wie beim Corona-Bonus.
  3. Attraktivität des Berufsfeldes steigern: Durch bessere Arbeitsbedingungen, eine größere Personalbemessung zum Beispiel durch sogenannte refinanzierte "Springer", angemessene Bezahlung und gezielte Fortbildungsmöglichkeiten kann der Beruf in der Eingliederungshilfe attraktiver gestaltet werden. Ebenso bedarf es einer Kampagne zur Steigerung des Bekanntheitsgrades des Berufsfeldes
  4. Ausbildungsförderung: Die grundständige Ausbildung von Fachkräften muss intensiver gefördert werden, um den Bedarf an qualifiziertem Personal zu decken. Die Nachqualifizierung zur Erlangung des Fachkraftstatus zum Beispiel in Form einer Aus- bzw. Weiterbildung zur Fachkraft im Wohnbereich und sozialen Teilhabe, ähnlich wie die zur Fachkraft im Arbeitsbereich (gFAB und SPZ)  muss kommen. Die Zugangsvoraussetzungen für den Beruf des*der Heilerziehungspfleger*in müssen überprüft werden.
  5. Keinen Blindflug mehr: Um das Schiff steuern zu können, ist eine verlässlichere Datenbasis notwendig. Mit Statistiken über offene Stellen im Feld der Eingliederungshilfe in Hessen, über abgebaute Plätze und nicht abgerufene Bescheidumfänge auf Grund des Fachkräftemangels, über die Studierendenzahlen in den Fachschulen und über regionale Unterschiede.
  6. Ein Name, den kaum einer kennt: Seit Jahren wird über den Namen des Kernberufs für die Eingliederungshilfe, dem*der Heilerziehungspfleger*in debattiert. Fragen Sie mal eine*n Schulabgänger, ob sie den Beruf kennen und ihn in den Google-Suchschlitz eingeben würden. Die Antwort dürfte eindeutig sein: Nein. Die Namensfrage muss endlich abgeschlossen werden, damit Maßnahmen zur Bekanntheitssteigerung greifen können.

Insgesamt erfordert die Bewältigung des Fachkräftemangels in der Eingliederungshilfe eine gemeinsame Anstrengung von Politik, Gesellschaft, Angehörigen. Leistungsberechtigten und Einrichtungen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Eingliederungshilfe ihre zentrale Rolle in der Förderung von Inklusion weiterhin erfüllen kann.

Aus diesem Grund haben wir den Film "Keine halben Sachen", in dem Menschen mit Behinderung, Angehörige, Auszubildende und Fachkräfte zu Wort kommen, produziert. Wir wollen mit diesem Film zum Nachdenken anregen und zum Handeln auffordern. Der Film ist hier zu finden.

Zusätzlich haben wir ein juristisches Kurzgutachten bei Bernzen und Partner beauftragt, welches wir in die politische Diskussion einbringen möchten. Dieses behandelt die Frage, wer in Hessen verantwortlich ist, dem Fachkräftemangel mit geeigneten Maßnahmen und Kampagnen abzuhelfen und welche Zusammenhänge im sozialrechtlichen Leistungsdreieck bestehen. Das Gutachten ist hier zu finden.