Beitrag

Lebenshilfe Marburg - Standpunkte

Damit Inklusion im Koalitionsvertrag nicht nur ein Wort bleibt


Lebenshilfe Landesverband Hessen e.V. schreibt einen offenen Brief mit Forderungen zur Verwirklichung von gesellschaftlicher Teilhabe an die Koalitionsverhandler CDU und B90/Die Grünen.

Damit Inklusion im Koalitionsvertrag nicht nur ein Wort bleibt, wenden wir uns heute an Sie.

Wir sind seit über 50 Jahren die Interessensvertretung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und deren Eltern in Hessen. Gemeinsam mit unseren über 10.000 Mitgliedern setzen wir uns für die vollständige gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein. Mit Engagement und Fachlichkeit vertreten wir die Interessen von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren mit Behinderung auf politischer Ebene. Zudem sind unsere 40 Orts- und Kreisvereinigungen mit ihren Beratungsangeboten, Diensten und Einrichtungen eine tragende regionale Säule, um behinderten Menschen ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben in Hessen zu ermöglichen.

Damit ein gemeinsames Zusammenleben aller Menschen mit und ohne Behinderungen in Hessen zur Normalität wird, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht, fordern wir Sie dazu auf, folgende Aspekte im Koalitionsvertrag zu verankern und in Ihrer gemeinsamen Regierungszeit einzulösen:

  1. Wie unsere Wohnraummangelstudie „Extremsport Wohnungssuche- Die Wohnsituation von Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen in Hessen“ zeigte, haben es Menschen mit Behinderung in Hessen besonders schwer eine barrierefreie sozialräumlich gut angebundene Wohnung zu finden. Steuern Sie nicht gegen, fehlen bis 2021 mindestens 80.000 bezahlbare Wohnungen für Bürger mit geringen Einkommen, zu denen Menschen mit Behinderungen zählen. Wir fordern Sie daher auf, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diesen Mangel an Wohnraum schnell beseitigen (https://www.lebenshilfe-hessen.de/de/standpunkte/standpunkte/beitraege/die-wohnsituation-von-menschen-mit-kognitiven-und-koerperlichen-beeintraechtigungen-in-hessen.html).
  1. „Mit Inkrafttreten der UN-BRK ist klargestellt, dass die Vertragsstaaten das aktive und passive Wahlrecht auch ohne Ansehung der Art und Schwere der längerfristigen Beeinträchtigung einer Person achten, schützen und gewährleisten müssen“ (https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Menschenrechtsbericht_2016/Menschenrechtsbericht_2016.pdf#page=113). Leider sind in Hessen immer noch die Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, die zur Besorgung aller Angelegenheiten eine gesetzliche Betreuung haben. Dieser Ausschluss ist menschenrechtlich nicht haltbar. Wir fordern Sie dazu auf, in Ihrem Koalitionsvertrag die Beseitigung dieses Ausschlusses festzuschreiben und Menschen mit Beeinträchtigungen für kommende Landtagswahlen das Recht auf politische Willensäußerung möglich zu machen.
  1. Schulische Inklusion ist ein Gewinn für alle, wie die Schulen unserer Mitgliedsorganisationen sowie viele andere Schulen in ganz Europa beweisen. Immer noch gehen in Hessen aber zu wenige Schüler mit (kognitiver) Beeinträchtigung auf Regelschulen. Wir fordern Sie auf, geeignete Maßnahmen, wie z.B. die Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf Schulassistenz in angemessener Qualifikation & die Implementierung von Unterrichtskonzepten an Regelschulen für gemeinsamen Unterricht zu verankern, die das gemeinsame wohnortnahe Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung zur Selbstverständlichkeit machen. Dieses gemeinsame Lernen und die gemeinsame Zeit darf auch keineswegs nach dem Vormittag enden. Wir fordern die Abschaffung der Diskriminierung von behinderten Schülern und deren Eltern beim so genannten ‚Nachmittagspakt‘.
  1. „Nichts ohne und über uns“ ist unser Leitspruch. Wir freuen uns, dass zunehmend Menschen mit Behinderung in Gremien und gesetzgeberischen Arbeitszusammenhängen mitreden und -bestimmen. Die politische Partizipation von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung bedarf aber zusätzlicher Unterstützungen Ihrerseits. Wir fordern Sie auf, geeignete Arbeitsformen und notwendige personelle Assistenz (unter Einschluss adäquater Medien und Materialformen, z.B. Leichte Sprache) für die Mitarbeit zu implementieren.
  1. Mit voller Kraft engagieren wir uns regional und landesweit für geflüchtete Menschen mit und ohne Behinderung. Wir fordern Sie auf, Maßnahmen zu ergreifen, die den besonderen Bedarfen und Rechten von Flüchtlingen mit Behinderungen und deren Familien gerecht werden. Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine Verbesserung der frühzeitigen Erkennung von besonderen Schutzbedarfen, eine schnelle dezentrale Unterbringung, die frühzeitige Begleitung der geflüchteten Menschen durch Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe eine Humanisierung ihrer Lebensumstände bewirkt.
  1. Häufig ist es in den Regelsystemen der Behindertenhilfe nicht ausreichend gelungen, den fachlichen Aufwand für kultursensible Arbeit und kultursensible Leistungsangebote zu refinanzieren, so dass beides unzureichend gewährleistet wird. Beratungsangebote und Leistungsangebote in der sozialen Arbeit, insbesondere in der Behindertenhilfe, müssten vielfach stärker auf die Zielgruppen der Menschen mit Migrationsgeschichte eingestellt werden. Dieser Aufwand umfasst einerseits den oftmals höheren zeitlichen Aufwand für Informations- und insbesondere für Beratungsprozesse. Wir fordern sie auf, die interkulturelle Öffnung und das kultursensible Know-How von Fachkräften sowie die Ausbildung von fachkundigen Dolmetschern als wichtiges Verbindungsglied durch Landesinitiativen und Förderprogramme zu unterstützen.
  1. Auch zwölf Jahre nach Formulierung der UN-BRK und neun Jahre seit ihrer Ratifizierung werden die Möglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Wohn-, Arbeits-und Lebensorte genauso wählen zu können wie jeder andere auch und ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben zu führen durch bestehende rechtliche Strukturen und das damit verbundene Verwaltungshandeln erschwert. Wir fordern Sie auf, die Rahmenbedingungen für den forcierten Ausbau der Ambulantisierung beim Wohnen weiter zu verbessern und dies insbesondere für jene Personenkreise, die noch immer von ambulanten Hilfen und selbstbestimmtem Wohnen ausgeschlossen sind, zu denen bspw. Menschen mit hohen Unterstützungsbedarfen zu zählen sind.
  1. Vielfalt ist eine Bereicherung. Leider sind Abwertungen und Diskriminierungen bis hin zu Gewalterfahrungen auch heute noch gesellschaftliche Realität. Wir freuen uns über Ihr Engagement gegen jede Form von Diskriminierung. Selbstverständlich unterstützen wir Ihre Bemühungen zum Beispiel durch unsere aktive Mitarbeit im ADiBe-Netzwerk Hessen, das wir mit unserer Kompetenz und unseren Erfahrungen mit dem Fokus Behinderung unterstützen. Wir fordern Sie auf, weiterhin aktiv gegen Diskriminierung vorzugehen und entsprechende Aktivitäten der Zivilgesellschaft zu fördern.
  1. Zur Umsetzung der vollumfänglichen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Hessen sind engagierte und qualifizierte Fachkräfte notwendig. Nicht nur unseren Mitgliedsorganisationen, sondern allen Träger der Eingliederungshilfe in Hessen bereitet der Fachkräftemangel große Sorgen. Wir fordern Sie auf, geeignete Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel, wie zum Beispiel die Steigerung der Attraktivität der helfenden Berufe durch eine verbesserte Bezahlung, verbesserte Arbeitsbedingungen durch höhere Personalschlüssel und auch durch Image-Kampagnen zu unterstützen.

Zurück